Ein geheimnisvolles Licht in der Musik von Giuseppe Verdi zieht den griechischen Dirigenten mit Wahlheimat Russland Teodor Currentzis in den sakralen Kosmos von Verdis Requiem. In schroffen Gegensätzen von Schreien aus Verzweiflung und tiefster tränenreicher Trauer entwickelt er ein psychologisches Mysterienspiel zwischen Himmel und Hölle. Ob ihm das bei seinem Debut mit den Berliner Philharmonikern und seinem Musicaeterna Chor aus Perm gelingt?
„Magie“ ist das Zauberwort, das die Probenatmosphäre des griechischen Dirigenten Teodor Currentzis grundsätzlich bestimmt. Er möchte die Sinne öffnen für diesen Zauber der Musik. Um diesen Zustand des Irrationalen zu erreichen, setzt er auf jeden einzelnen Musiker, verlangt von jedem Mitwirkenden ein persönliches Bekenntnis zur individuellen Schönheit des musikalischen Ausdrucks, eine Hingabe an die Musik, die getragen wird vom Atem und vom Körpergefühl. Mehr innerlich als äußerlich.
Im Barock findet Teodor Currentzis den idealen Musikertypus. Im Grunde möchte der Dirigent, dass jeder Musiker sich verhält wie die Musiker im Barock: sie haben sich verantwortlich gefühlt für die Gestaltung der Aufführung, und sie waren vertraut mit dem Geheimcode der Komponisten.
Der griechisch-russische Dirigent Teodor Currentzis ist ein Perfektionist. Alles wird mit äußerster Präzision gespielt. Das hat er bei Ilya Musin in St. Petersburg gelernt. Aber der berühmte Dirigent hat ihn auch gelehrt, was Aufführungspraxis bedeutet. Man darf sich nicht an Analysen klammern, man muss den tatsächlichen Informationswert herausfiltern, das hat er in St. Petersburg gelernt, wo die Tradition eine sehr große Rolle spielte und das große Erbe von Tschaikowsky und Verdi von Dirigent zu Dirigent weitergegeben wurden.
„Ich möchte Ihnen gerne ein Beispiel geben“, erklärt Teodor Currentzis. „Nehmen wir einmal an, ich würde heute ein Stück komponieren und ein Orchester würde dieses Stück spielen. Also erstens: Während der Proben merkt man: was man zu Hause schreibt ist nicht das, was im Konzertsaal erklingt. Und Du wirst merken, dass du vieles gern ändern möchtest. Zuallererst die Tempi und Metronomangaben.
Zweitens. Viele Komponisten, die selbst Dirigenten waren wie Mahler zum Beispiel, ändern nach der ersten oder zweiten Aufführung noch etwas. Alle möchten irgendetwas verbessern, was sie zu Hause geschrieben haben. Aber: sagen wir, ich habe mein Stück verbessert, aber das Orchester hat das Stück nicht so gespielt, wie ich es wollte. Und nehmen wir weiter an, ich kann nichts machen, der Komponist ist irgendwie machtlos, wenn er ein Stück komponiert hat. Und hundert Jahre später findet jemand diese Aufnahme und sagt: ‚Nein, dieses Stück darf nur so aufgeführt werden, denn Currentzis war bei der Aufführung im Konzert dabei, deshalb muss das Stück genau so sein.‘ Aber – keiner hat Currentzis gefragt, was er wollte. Also: ein Teil der Tradition entwickelt sich auch einfach aus Fehlern.“
„Was ist ein Konzert?“ fragt Teodor Currentzis. Seine Antwort: „Es ist ein heiliger Akt, der die Menschen im Konzert miteinander verbindet!“ Und dafür arbeitet er hart.
Geboren ist Teodor Currentzis 1972 in Athen. Sein Vater war Matrose, der später zum Polizisten umschulte, seien Mutter Musikerin. Doch es war die Leidenschaft des Vaters, der ihn für Musik begeisterte. Er studierte Geige, fing mit 15 Jahren an zu dirigieren und zu komponieren. Bis zum Sommer 2019 war Teodor Currentzis Musikdirektor des Opern und Ballett-Theaters in Perm. Doch aufgrund von Problemen mit der Verwaltung gibt er diese Stelle auf. Seine Begründung: „(…) ohne deren völliges Unverständnis, jeden Fehlens von Ehrfurcht und Einfühlungsvermögen, hätte ich nicht die Kraft für diese Entscheidung aufgebracht, mein Himmelreich zu verlassen.“ (Quelle SWR) Das ist unabhängig von seinen Aktivitäten mit der Musica Aeterna und er wird seiner Stadt Perm treu bleiben, sagt er. Seit der Saison 2018/2019 ist Teodor Currentzis nach einigen Jahren als Gastdirigent nun Chefdirigent des SWR Symphonieorchesters. Er liebt dieses Orchester, das jeden Herbst bei den Donaueschinger Musiktagen zahlreiche Orchesterwerke uraufführt.
„Das ist ein ganz besonderes Orchester. Das ist ein Orchester mit einer sehr herzlichen Haltung und Sorgfalt gegenüber der Musik. Viele Profiorchester sitzen nicht vorne auf der Stuhlkante, sondern machen nur ihren Job. Aber das Baden-Badener ist ein ganz spezielles Orchester und die außergewöhnliche Philosophie, die die Musiker in ihrem Verhältnis zur zeitgenössischen Musik haben, die gibt ihnen eine ganz besondere Persönlichkeit für das gesamte Repertoire. Deshalb liebe ich dieses Orchester.“
Es hatte etwas Opernhaftes, wie Teodor Currentzis auf seiner Europatournee im Frühjahr 2019 mit dem Musica Aeterna Orchester und Chor das Requiem von Verdi inszenierte. Die Musikerinnen und Musiker waren in schwarze Gewänder gehüllt und schritten wie in einer Prozession auf die Bühne. Solche Äußerlichkeiten mögen bei vielen die innere Anteilnahme verstärken. Was aber die Musiker besonders beeindruckt hat und Teodor Currentzis in Fragen des Tempos und der Dichte der Musik stark beeinflusst hat, war einer der Aufführungsorte auf der Tournee: es war die Kirche „San Marco“ in Mailand. In dieser Kirche hat Giuseppe Verdi das Werk 1874 selbst uraufgeführt. Verdi hatte sie ausgewählt, weil sie eine gute Akustik hat und weil Wolfgang Amadeus Mozart gut 100 Jahre vor ihm dort aufgetreten war. Und so ist Teodor Currentzis Aufführung des Verdi Requiems auch beseelt von den Erfahrungen mit der Akustik und der Dichte des Raumklanges und nicht zuletzt von dieser emotionalen Begegnung mit dem Zauber des Anfangs. Ob es ein Zauber des Anfangs für die Zusammenarbeit von Teodor Currentzis mit den Berliner Philharmonikern geworden ist, diese Antwort wird die Zeit geben.
Mehr auf DLF Kultur am 30.11.2019 im Konzert https://www.deutschlandfunkkultur.de/teodor-currentzis-bei-den-berliner-philharmonikern-zwischen.1091.de.html?dram:article_id=464679
und in der DCH der Berliner Philharmoniker in einem wunderbaren Gespräch mit Sarah Willis. https://www.digitalconcerthall.com/de/concert/52511